»Weniger Demokratie wagen«. Auch mal ein Aspekt.
Ein Beitrag zum Themengebiet Anmerken., geschrieben am 30. September 2015 von Thomas LasserDer Spiegel-Autor und Spiegel Online-Kolumnist Jan Fleischhauer hat in der vergangenen Woche einen ganz hervorragenden Text zum Thema freie Meinungsäußerung im Netz geschrieben. Einer alten, aber eher raren Tradition dieses Blogs folgend, verlinke ich ihn nicht, sondern kopiere ihn hier zum Lesen einfach rein. Viel Vergnügen:
Alle klagen über sinkende Wahlbeteiligung. Wenn man sieht, was Leute im Netz hinterlassen, kann man nur dankbar sein, dass viele Krakeeler am Wahltag zu desinteressiert oder zu betrunken sind, um aus dem Bett zu finden.
Demokratie hat auch ihre Schattenseiten. Es reden zu viele Leute mit, die unqualifziertes Zeug von sich geben. Es gilt heute als reaktionär, so etwas zu sagen. Aber es ist die Wahrheit, wie jeder weiß, der sich ein paar Stunden auf Twitter und Facebook umgesehen hat.
Die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat vor knapp zwei Wochen ein Video ins Netz gestellt, in dem sie aus Einträgen vorliest, die sie auf ihrer Facebookseite gefunden hat. Es sind durchweg unerfreuliche Beiträge, in denen Leute schlimme Dinge sagen. Die Politikerin wirkt bei ihrem Auftritt sehr betroffen.
Für Menschen, die ihr Leben auf der Annahme aufgebaut haben, dass man mit der entsprechenden Zahl von Sozialarbeitern nahezu jedes Problem in den Griff bekommt, ist es bitter, wenn sie erkennen müssen, dass es einen Teil der Gesellschaft gibt, bei dem Hopfen und Malz verloren ist. In dem Video appelliert Göring-Eckardt an die Leitung von Facebook, „solchen Dreck“ in die Mülltonne zu befördern und zu löschen.
Der Dreck mag mit Facebook in die Welt kommen, aber die Urheber waren schon vorher da. Ich bezweifele, dass sich der Bodensatz an Verbohrten und Gestörten vergrößert hat, weil sie jetzt das Internet als Klowand haben. Idioten hat es immer gegeben, früher hat man sie nur nicht so oft gesehen. Neu ist bei den Abgehängten das Gefühl, nicht Außenseiter, sondern Meinungsführer zu sein. Wer bislang allein vor seinem Bier hockte, weil jeder in der Kneipe wusste, dass bei ihm eine Schraube locker ist, findet nun Gleichgesinnte, die ihn im Wahn bestätigen.
Man mag darüber streiten, ob man als Vizekanzler Menschen, die am liebsten Zweiwortsätze brüllen, als „Pack“ bezeichnen darf: Soziologisch ist es eine zutreffende Bezeichnung. Der typische Internetkrakeeler verfügt über eine eher gebrochene Erwerbsbiografie und eine noch gebrochenere Schulkarriere. Es gibt auch Nazis, die den Gebrauch des Semikolons beherrschen, anstatt es für ein Ausrufezeichen von Lesben zu halten, aber das ist eher die Ausnahme. Wer in der Freizeit Stefan George liest, neigt eher nicht dazu, andere morgens mit „Hey, Arschloch“ zu begrüßen.